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212 antisemitische Vorfälle in Thüringen im Jahr 2021

RIAS-Meldestelle zieht erste Bilanz

Insgesamt 212 antisemitische Vorfälle dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen (RIAS Thüringen) im Jahr 2021. Davon hatten 141 antisemitische Vorfälle einen Bezug zur Corona-Pandemie. Im Schnitt wurde damit an jedem zweiten Tag ein antisemitischer Vorfall in Thüringen dokumentiert. Auch Thüringer Juden und Jüdinnen berichten von vielfachen Antisemitismuserfahrungen im Freistaat. Das geht aus einem Jahresbericht und einer Studie hervor, die RIAS Thüringen am Dienstag in Erfurt vorstellte.

Von den 212 im Jahr 2021 dokumentierten Vorfällen gingen allein 120 antisemitische Vorfälle auf zwei organisierte Aktionen im Kontext der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zurück. Die Aktionen richteten sich größtenteils in Form von E-Mails mit Schoa-relativierenden und verschwörungsideologischen Inhalten gegen die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald-Mittelbau-Dora sowie das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena.

Unter den 92 übrigen Vorfällen wurden 3 Angriffe, 13 gezielte Sachbeschädigungen gegen jüdische Einrichtungen und Gedenkstätten, 1 Bedrohung, 56 Fälle verletzenden Verhaltens und 19 Massenzuschriften erfasst. Besorgniserregend ist, dass alle 3 Angriffe ebenfalls einen Bezug zur Corona-Pandemie hatten. In einem Fall wurden beispielsweise zwei Personen im öffentlichen Nahverkehr antisemitisch beschimpft, nachdem sie den:die Täter:in darauf hingewiesen hatten, einen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. Zudem versuchte der:die Täter:in, die Maske eines:r Betroffenen herunterzureißen.

„Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen haben in Thüringen eine Gelegenheitsstruktur geschaffen, um Antisemitismus offen zu artikulieren – und zwar in allen politischen Spektren“, erläutert Dr. Anja Thiele, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen. „Dieser Antisemitismus war jedoch schon vor der Pandemie in der Gesellschaft vorhanden und wird es auch noch nach der Pandemie sein. Darauf weisen die zahlreichen ‚alltäglichen‘ Vorfälle unserer Dokumentation hin.“

Die am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform in Thüringen war der Post-Schoa-Antisemitismus (75%). Darunter fallen etwa die Relativierung oder Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen sowie Formen der NS-Verherrlichung und Angriffe auf die Erinnerungskultur. Moderner Antisemitismus, der sich in Verschwörungsideologien äußert, wurde in 40% und israelbezogener Antisemitismus in 27 % der Fälle registriert.

n drei Viertel der Fälle konnte eindeutig ein politisch-weltanschaulicher Hintergrund festgestellt werden. Am häufigsten wurde ein rechtsextremer Hintergrund dokumentiert (37%), gefolgt von antiisraelischem Aktivismus (19%).

Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff, Chef der Thüringer Staatskanzlei und Beauftragter der Landesregierung für jüdisches Leben und die Bekämpfung des Antisemitismus, erklärt dazu: „Die Dokumentation zeigt, dass Antisemitismus in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden ist und eines der drängendsten Probleme in unserer Gesellschaft darstellt. Dank der Arbeit von RIAS und zivilgesellschaftlicher Akteure, die auch mit Unterstützung der Landesregierung eng zusammenarbeiten, sind viele dieser alltäglichen Ausprägungen von Antisemitismus im Freistaat nun sichtbarer. Wir müssen jeden Vorfall ernst nehmen. Die Bekämpfung des Antisemitismus muss zu unserer alltäglichen Aufgabe werden. Seine Bekämpfung, das Üben von Widerspruch in Reaktion auf antisemitische Feindbilder, ist unser aller Aufgabe und Verpflichtung.“

In einer parallel von RIAS Thüringen durchgeführten Studie zu Antisemitismus in Thüringen wurden 10 leitfadengestützte Interviews mit Juden und Jüdinnen in Thüringen, darunter auch Vertreter:innen jüdischer Gemeinschaften, geführt. Zusätzlich wurden zivilgesellschaftlich und polizeilich erhobene Daten zu Antisemitismus in Thüringen ausgewertet.

Die Studie zeigt: Antisemitismus ist für Juden:Jüdinnen in Thüringen eine alltagsprägende Erfahrung. Thüringer Juden und Jüdinnen sind mit einer Vielzahl von antisemitischen Vorfällen konfrontiert, die sie in unterschiedlicher Intensität aus allen politischen Richtungen und an allen Orten des Arbeits- und Privatlebens erleben müssen. Ein Großteil der Befragten gab sogar an, bewusst das Tragen jüdischer Symboliken zu vermeiden oder die eigene jüdische Identität zu verschweigen, um antisemitischen Anfeindungen ein Stück weit zu entgehen. Die befragten Juden und Jüdinnen kritisierten zudem, dass Antisemitismus von Politik und Zivilgesellschaft oft nicht ernst genug genommen wird – gerade, wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht.

Prof. Dr. Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, erklärt hierzu: „Mit dem Jahresbericht und der Studie analysiert RIAS Thüringen die antisemitischen Vorfälle des Jahres 2021 in unserem Freistaat und die Wirkung derartiger Vorfällen auf unsere jüdische Gemeinschaft. Die Jüdische Landesgemeinde Thüringen ist dankbar, dass damit die Thüringerinnen und Thüringer sensibilisiert werden, sowohl gegen unbegründete Voreingenommenheit als auch gegen absurde Verschwörungstheorien und gegen Feindschaft zu Israel vorzugehen. Zunehmende Unsicherheiten und wachsender Nationalismus begünstigen heute Antisemitismus. Umso wichtiger ist das Engagement von RIAS Thüringen.“

RIAS Thüringen ist eine zivilgesellschaftliche Dokumentations- und Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Thüringen. Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-thueringen.de <http://www.rias-thueringen.de> , per E-Mail an rias.thueringen@idz-jena.de <mailto:rias.thueringen@idz-jena.de>  oder per Telefon unter 0176/71213004 gemeldet werden. RIAS Thüringen ist am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena angesiedelt und existiert seit 2020. Sie befindet sich in der Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) und wird von der Thüringer Staatskanzlei gefördert.